Was Klassikfestivals anbelangt, schlägt das musikalische Herz der USA weder in New York noch in Los Angeles, sondern fernab der Metropolen: in der Idylle der sanft geschwungenen, grünen Berkshire Hills im Westen von Massachusetts. Hier findet alljährlich im Juli und August das Tanglewood Festival statt. Das Festivalgelände umfasst über 200 Hektar Parklandschaft mit altem Baumbestand, Wiesen, Hecken, zwei historischen Herrenhäusern und einem eigenen Strand zur Berkshire Bowl, dem Haussee. Das Gelände bietet einen atemberaubenden Panoramablick auf die umliegenden Berge, die ein Abschnitt der Appalachen sind. Tanglewood, das ist für Anthony Fogg „ein Ort, wo Musik und Natur auf perfekte Weise zusammentreffen.“ Fogg verantwortet das traditionsreiche Festival als künstlerischer Leiter des Boston Symphony Orchestra, eines der „Big Five“ der USA. Tanglewood ist die Sommerresidenz der Bostoner, jährlich acht Wochen verbringen Musiker, Verwaltung und Technik im Grünen, etwa drei Autostunden westlich von Boston und ebensoviele nördlich von New York City.
Wo Leonard Bernstein sein allerletztes Konzert dirigierte
Das Orchester bietet in Tanglewood ein prall gefülltes Programm und lädt seit jeher berühmte Gäste ein. Aaron Copland und Leonard Bernstein waren im Sommer hier praktisch zu Hause, hatten Leitungs- und Beratungsaufgaben. In frühen Jahren fanden sich Paul Hindemith und Darius Milhaud ein, auch Benjamin Britten, Jascha Heifetz, Benny Goodman, Claudio Arrau und Isaac Stern waren hier. Heute gastieren in Tanglewood Stars wie Lang Lang, Rudolf Buchbinder oder Yuja Wang, Tanglewood-Stammgäste wie Emanuel Ax, Yo-Yo Ma oder Peter Serkin verbringen ihre Sommermonate in der Region. Und seit jeher haben selbstverständlich die legendären Chefdirigenten des Boston Symphony das Profil von Tanglewood geprägt, allen voran Festivalgründer Serge Koussevitzky sowie seine Nachfolger Charles Münch, Erich Leinsdorf, William Steinberg, Seiji Ozawa, James Levine – und Andris Nelsons.
Der derzeitige Chefdirigent und Musikdirektor in Boston empfindet die wundervolle Natur in und um Tanglewood gerade nach einem intensiven Probentag als wichtige Kraftquelle. Angesichts der illustren Ahnengalerie und der denkwürdigen Darbietungen ist der Ort für ihn überdies mit einer besonderen Aura umgeben. So hat etwa Bernstein hier 1990 mit Beethovens Siebter sein letztes Konzert dirigiert, zwei Monate vor seinem Tod. Das Repertoire in Tanglewood reicht von Mozart bis Mahler, von Schubert bis Schostakowitsch, von Bach bis Bernstein. Viel Sinfonik, aber auch Solo-Recitals, Liederabende, Chorwerke und sogar halbszenische Operndarbietungen. Zeitgenössisches und Uraufführungen sind Ehrensache. Auch das Great American Songbook und Musicalklassiker stehen auf dem Programm. Für die Qualität auf diesem Gebiet sorgt das Boston Pops Orchestra, das aus Mitgliedern des Boston Symphony Orchestra besteht. Die Stimmführer des Orchesters haben sich wiederum vor Jahrzehnten zu den Boston Symphony Chamber Players zusammengetan, die Kammerkonzerte in Tanglewood gestalten.
Die großen Konzerte finden in der Koussevitzky Shed statt. Die Bezeichnung „Shed“, „Scheune“, ist eine kokette Tiefstapelei für ein visionäres Bauwerk mit verblüffender Akustik, dessen achtzig Jahre man ihm nicht anmerkt. 5.000 Zuschauer fasst der Spielort, komplett überdacht, mit dem Grundriss eines Fächers. Lediglich die Bühne ist von Wänden ummantelt, ansonsten ist das Gebäude zu drei Seiten hin offen und gewährt den Blick in den Park. Die Zuschauersitze sind auf gestampfter Erde installiert. Bei Konzerten fliegen zwischendurch Vögel durch diese offene Halle. Bei Wetterumschwung sorgen das Brausen des Winds oder auch mal ein Donnerwetter für markante Kontrapunkte. Bei guter Witterung versammeln sich weitere Zuschauermassen auf der weitläufigen Wiese zum ausgiebigen Picknick, gerne unter dem Schatten der mächtigen Bäume, mit Sesseln und Campingtischen. Wer ohne Picknickkorb eintrifft, kann sich im naheliegenden Biergarten mit Streetfood von regionalen Anbietern stärken, es gibt Mediterranes, lateinamerikanische Küche und Barbecue. Wer es eleganter mag, findet am noblen Buffet im Herrenhaus Highwood und in diversen Catering-Zelten im Park das Richtige.
Proben im Park von Tanglewood
Kammerkonzerte und Liederabende finden in der 1994 errichteten Seiji Ozawa Hall statt. Der Innenraum in warmen Holztönen ist zu Ehren des langjährigen Orchesterleiters der Bostoner an japanische Vorbilder angelehnt. Die Wand hinter dem Zuschauerraum mit seinen rund 1.200 Plätzen lässt sich komplett öffnen, so dass die Darbietungen ebenfalls von der Wiese aus verfolgt werden können. Auch hier weitet sich der Raum ins Grüne hinaus, wie auch bei den Pavillons auf dem Gelände, die als Proberäume dienen und bei offenen Schiebetüren die Luft mit Klängen erfüllen. Im Park von Tanglewood proben jedoch nicht nur die Musiker des Boston Symphony Orchestra und dessen Gäste, sondern vor allem die „Fellows“ der Festivalakademie des Tanglewood Music Center: etwa 140 angehende Instrumentalisten, Sänger, Dirigenten und Komponisten. Die Sommerkurse haben erheblichen Anteil am Programm und noch mehr an der unbeschwerten, lockeren Atmosphäre von Tanglewood.
Als Serge Koussevitzky 1937 den Besitz für sein Bostoner Orchester als Schenkung erhielt, plante er nicht nur Freiluftkonzerte für Sommerfrischler aus Boston und New York City, sondern hatte gleich die Idee, eine Akademie für den Nachwuchs zu gründen. Aaron Copland, der prominenteste US-Komponist jener Jahre, wurde 1940 mit der Akademie-Leitung beauftragt. Heute organisiert hier Ellen Highstein als Direktorin die Ausbildung. Sie ist davon überzeugt, dass Koussevitzky auch deshalb das Tanglewood Music Center ins Leben rief, um seine Musiker in der Auseinandersetzung mit dem für künstlerische Ideale brennenden Nachwuchs anzuspornen und herauszufordern, damit sie nicht in saturierter Routine erstarren. Mark Volpe, der Intendant des Boston Symphony Orchestra, stellt fest: „Auch wenn jemand schon dreißig Jahre lang Profimusiker ist, gerät er hier nie in Gefahr, zynisch oder überheblich zu werden. Denn er trifft auf diese jungen Studenten und erinnert sich daran, wie alles begann. Das ist sehr inspirierend.“ Bostons Orchesterchef Andris Nelsons sagt über das Festival: „Alles dreht sich hier um die Musik, alles darum, Werke zu lernen, mehr darüber zu erfahren. Es geht nicht um Stars oder Hierarchien, dass große Lehrer kommen und den Studenten zeigen, wie sie es machen sollen. Ich glaube, dieser Ort wirkt jeglicher Arroganz entgegen, dafür ist es hier viel zu schön.“
Kaderschmiede für Orchestermusiker
In den Konzerten der Fellows hört man viel Zeitgenössisches, oft auch Uraufführungen, schließlich nehmen auch junge Komponisten an den Kursen teil. Von Anfang an war die Akademie hier Kaderschmiede für viele Orchestermusiker der USA und anderswo. Bernstein gehörte 1940 zum ersten Jahrgang, der Campus auf dem Gelände von Tanglewood trägt seinen Namen. Berühmtheiten wie Claudio Abbado, Lorin Maazel oder auch Wynton Marsalis waren hier Fellows. Die meisten kehrten später als Lehrer zurück. Aktuell wird der Campus rund um das Tanglewood Learning Institute um vier neue Gebäude erweitert. Hier kann das Publikum nun häufiger als bisher an Diskussionen, Vorträgen, Workshops, Filmpräsentationen teilnehmen und ausgewählte Meisterklassen und Proben besuchen.
Diese Mischung aus ländlicher Idylle, dörflichem Charme, hochkarätig besetzten Konzerten, kreativer Probenatmosphäre und Universitätscampus prägt die Stimmung in Tanglewood. Der familiäre Umgang, die vibrierende Begeisterung und die Liebe zum Ort, der für alle Mitwirkenden eine zweite Heimat geworden ist, all dies strahlt unablässig während der Sommerwochen auf die Besucher ab. Man sieht es an den glücklichen Gesichtern.
Andris Nelson dirigiert das Boston Symphony Orchestra auf dem Tanglewood Festival:
concerti-Tipp:
Tanglewood Music Festival
15.6.–25.8. 2019
Emanuel Ax, Yo-Yo Ma, Leonidas Kavakos, Anne-Sophie Mutter u. a.
Tanglewood, Massachusetts
Ausblick:
Tanglewood Music Festival
3.7.–23.8.2020