„Skandinavien und die Riviera, eisige Wüste und zärtliches Blütenland“, schwärmte die Schriftstellerin Gertrud Fussenegger über Meran, dort, „wo ewiger Schnee, sturmumfegte Felsregionen unmittelbar in subtropische Gartenparadiese“ blicken. Auf dem ersten Blick aber glaubt man in einer Garnisonstadt zu sein. Vis-à-vis zum Bahnhof eine Skulptur von Andreas Hofer, dem legendären Südtiroler Nationalhelden, der 1809 „für Gott, Kaiser und Vaterland” gegen die bayerische und französische Fremdherrschaft kämpfte und Südtirol eine Landeshymne lieferte. Zur Linken ein Schild mit drei Kreuzen. Es weist zu den drei Soldatenfriedhöfen, wo die Gefallenen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs ruhen: Deutsche, Österreicher, Ungaren, Italiener – stille Zeugen der Konflikte um diese Region, die beim Zerfall der Donaumonarchie 1918 von Italien besetzt wurde.
Viele Straßennamen stehen für die Geschichte. Sei es die Europaallee vor dem Bahnhof, die einst Habsburgerstraße hieß oder der Corso della Libertà, der sich selbst erklärt. Auf ihm geht es – gute fünfzehn Minuten zu Fuß – ins Herz der Altstadt, dorthin, wo sich Merans wahre Schönheit entfaltet. Über die mittelalterliche Laubengasse mit ihren zierlichen Erkern, verwinkelten Hinterhöfen und zahlreichen Torbögen gelangt man zur Stadtpfarrkirche St. Nikolaus: ein spätgotischer Bau aus dem 14. Jahrhundert. Gut achtzig Meter hoch ist der Turm. Ein Stoßgebet fällt einem da vor dem gewaltigen Christophorus-Fresko an der Außenwand ein – dafür, dass dieses wunderbare Viertel aus der Zeit der K.-u.-k.-Monarchie verschont blieb von der Assimilierungspolitik der Faschisten.
Der Anfang war bescheiden
Vielleicht ehrt Meran auch eines Tages Hermann Schnitzer und Andreas Cappello mit einem Straßennamen. Denn ohne die beiden ginge es hier anders zu. Seit über dreißig Jahren versorgen sie die Stadt nicht nur mit Wellness, sondern auch mit Musik und Kultur. Schnitzer mit seiner langjährigen Erfahrung in der Touristikbranche und der Pianist Cappello als künstlerischer Leiter der „Meraner Musikwochen“. Anfang zwanzig war Cappello, ein Klavierstudent am Konservatorium in Bozen, als Schnitzer ihn fragte, ob er nicht Lust hätte, bei der Planung eines Musikfestes mitzuwirken. Auf die Idee hatte ihn ein Stammgast gebracht, Albert Catell, seinerzeit Cellist und Dirigent eines Kammerorchesters in New York. Doch der lebte in Amerika und kam nur zweimal jährlich nach Meran. „Unsere Idee war“, so Schnitzer, „etwas Bleibendes, Unvergessliches für Südtirol zu organisieren. Wenn es ein Flop wird, sagten wir uns tapfer, dann bleibt es halt einmalig. Aber wenn es ein Erfolg wird, machen wir weiter.“
Der Anfang am 17. August 1986 war bescheiden. Auf der engen Bühne des kleinen Jugendstil-Stadttheaters war Kammermusik zu hören. Erst ab 1989, erzählt Cappello, stand der renovierte größere Kursaal zur Verfügung. Dort steht nun, 2019, der agile Iván Fischer mit seinem Budapest Festival Orchestra auf der Bühne. 1989, fast auf den Tag genau vor dreißig Jahren war er schon einmal hier, damals zum ersten Mal. Dunkle Lieder von verlorener Liebe aus „Les nuits d’été“ von Hector Berlioz stimmt jetzt die fabelhafte Miah Persson an, gefolgt von Tschaikowskys rätselhafter „Pathétique“. Wie wohl der Raum, der heute nach außen hin in Orange strahlt, im 19. Jahrhundert gewirkt haben muss, als er noch von 102 Gasflammen erleuchtet wurde?
Meran: Inmitten exotischer Palmen und Zypressen
Meran lädt aber auch dazu ein, sich auf die Spuren von Kaiserin Sissi zu begeben, die zwischen 1870/72 auf Schloss Trauttmansdorff mit ihrem Hofstaat überwinterte: immer am rechten Ufer der Passer entlang, vorbei an herrschaftlichen Villen, verwunschenen Ansitzen, der Wandelhalle mit ihren hübschen Landschaftsfresken bis hin zum Steinernen Steg. Die Zeit könnte hier inmitten exotischer Palmen und Zypressen stillstehen – wären da nicht die verbissenen Rentner-Fahrradtourgruppen. 1836 hatten der Stadtphysikus Josef Waibl und Johann Nepomuk Huber, Leibarzt der Fürstin von Schwarzenberg, in zwei schlauen Büchlein das heilende Klima Merans gepriesen. „Luft, Wasser und Milch“ seien, so Huber, „von einer so hohen Qualität, dass das Lebensende lange hinausgeschoben werden kann“. Plötzlich war Meran in aller Munde, zunächst unter den Adligen, dann auch unter dem Großbürgertum.
Bei Bädern in Holzfässern, Kurtrauben, Trinkkuren und ein bisschen Sporteln versuchte sich mancher von den seinerzeit gängigen Leiden, etwa der Tuberkulose, zu kurieren. Dazu lange Spaziergänge. Abends traf man sich in den Salons der Hotels, um den neuesten Klatsch zu erfahren, lauschte im Pavillon de Fleurs den Klängen des Kurorchesters, das täglich vier Konzerte gab und als bestes Orchester der Donaumonarchie galt. Als man 1908 einen Leiter suchte, bewarben sich gleich 250 Dirigenten aus ganz Europa. Gespielt wurde alles: Walzer, Polka, Ziehrer oder Strauss, Puccini und Verdi. Musik hatte ohnehin schon immer in der milden Luft von Meran gelegen. Walther von der Vogelweide und Oswald von Wolkenstein wurden in der Gegend geboren. Edvard Grieg, Béla Bartók und Max Reger kamen zu Besuch wie auch Paul Hindemith, Giacomo Puccini und Arnold Schönberg. Richard Strauss schwärmte von den „gesegneten Gefilden“ und trat im Kursaal mit eigenen Liedern auf.
Verknüpfung beider Landessprachen
Der Zweite Weltkrieg brachte ein jähes Ende für den mondänen Kurbetrieb, der staatsrechtliche Schwebezustand Tirols in den Nachkriegsjahren und die heikle politische Situation taten ihr Übriges. Erst in den Siebzigern beruhigte sich die Lage. Vor diesem politischen Hintergrund galt es 1986 auch für Schnitzer und Capello, eine dreisprachige Bezeichnung für ihr Festival zu finden. Lange Zeit hieß es „südtirol classic festival. Meraner Musikwochen. Settimane Musicali Meranesi“. Schwerfällig klang dies, weshalb man sich heute „südtirol festival merano . meran“ nennt. Kritische Stimmen wurden bei der Namensveränderung laut, es bleibt ein sensibles Thema. Schließlich waren nach der Machtergreifung der Faschisten 1922 Deutsch und die ladinischen Dialekte an Schulen und in Zeitungen verboten und nur Italienisch als Amtssprache zugelassen.
„Die neue Bezeichnung“, so Schnitzer, „verknüpft die zwei Landessprachen, ohne in Anglizismen zu flüchten.“ Und: „Nostalgie ist für die Entwicklung eines Produktes kein guter Ratgeber“. Das Festival sei zu einer Marke geworden, „die in ganz Europa bekannt ist“. Die Zahlen geben ihm recht: 10 000 Besucher erwartet man jährlich zu durchschnittlich 34 Konzerten. Unlängst dirigierte Sir Simon Rattle das 500. Konzert. „Herzstück ist das Klassikabonnement mit den großen Orchestern im Kursaal“. Dazu Barockmusik im Palais Mamming, den Schlössern Schenna und Tirol und den Kirchen. Außerdem Crossover-Projekte („colours of music“), A-cappella-Konzerte („vox humana“), Kammermusik in der „matineè classique“ im Pavillon des Fleurs.
Ein Ort voller Geschichte(n)
Hier trifft sich das Who’s who der Klassik. Viele Geschichten kommen da zusammen, und Capello erzählt sie gerne. „Friedrich Gulda ist vier Stunden früher als vereinbart gekommen. Als ich nach Hause kam, waren zehn Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter: Wenn ihn niemand empfängt, könne er auch wieder abreisen“. Krystian Zimerman, der seinen Steinway gerne über Nacht unter ein Stoffzelt stellt, verursachte manch logistische Komplikation. Mischa Maisky verliebte sich in eine Platzanweiserin und heiratete sie.
Cappello dürfte der dienstälteste Intendant der Welt sein. „Ihm gehen auch in Zukunft die Ideen nicht aus“. Da ist sich Schnitzer sicher, der nicht nur Präsident des Meraner Musikwochenvereins ist, sondern auch Vizepräsident der „European Festival Associations“ in Brüssel. Und: „Unser Budget beläuft sich jährlich auf ca. 1,3 Millionen Euro“, sagt Schnitzer. „Mit Eintrittskarten und Sponsorengeldern finanzieren wir rund 60 Prozent des Budgets, die restlichen 40 Prozent werden von der öffentlichen Hand getragen.“
Zurück zur Musik. Gestandene Männern hatten im Pavillon des Fleurs Tränen in den Augen, als der großartige Tenor Andrè Schuen mit Daniel Heide Schuberts „Schwanengesang“ und ladinisch Lieder vortrug. Meran, ein wahrer Ort der Sehnsucht.
südtirol festival merano . meran
19.8.-20.9.2020
Valery Gergiev, Novus String Quartet, Patricia Kopatchinskaja, Amarcord u. a.
Kurhaus, Stadttheater