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Internationale Festspiele Bergen 2019

Ein Festival für alle

Bei kaum einem Festival kommen Künstler und Publikum einander so nahe wie bei den Internationalen Festspielen Bergen.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Musik fängt in Bergen bereits in der Straßenbahn an. An jeder Haltestelle ein anderer Klang, mal eine Fanfare, mal ein schräges Arpeggio, dann wieder der Anflug einer Melodie, zwei, drei Sekunden lang, kleine Musiken, sechsundzwanzig Mal anders. So viele Stationen sind es vom Flughafen bis Byparken, ins Zentrum der Stadt. Hintergrundbeschallung wie an den Bahnhöfen in Hamburg oder Berlin gegen unerwünschte Dauergäste wie Drogendealer und Obdachlose sind das nicht. Davon gibt es in Norwegen trotz hoher Lebenshaltungskosten auf den ersten Blick erstaunlich wenige, und das ist nicht die verklärte Sicht einer Festspiel-Besucherin. Quasi über Nacht war Norwegen Anfang der Sechzigerjahre vom armen Bauernstaat zur superreichen Nation aufgestiegen, dank atemberaubender Öl- und Gas-Funde. In Norwegen leben angeblich die glücklichsten Menschen, beteuert auch der World Happiness Report 2017.

Man mag es kaum glauben: Vor dem Reichtum war offenbar das Bedürfnis nach Kultur. Ein „Salzburg am Nordkap“ schwebte der Wagner-Sängerin Fanny Elstad (1899–1979) vor, als sie 1953, nach Triumphen in Bayreuth und an der Wiener Staatsoper, in ihre Heimat zurückkehrte und das Bergen Festival gründete. Seitdem findet es in jedem Jahr statt, immer ab Mitte Mai bis Anfang Juni.

Konzerte im Wohnzimmer

Bald ist es wieder soweit: Tanz, Theater und Musik an fünfzehn Tagen, bis zu 300 Termine pro Saison. 2016 lockten sie gut 125.000 Besucher an. Programmatisch ist man allerdings weit von der Salzach entfernt. „Ich finde es nicht interessant, dass ein Weltstar einfliegt, ein Konzert gibt und geht. Ich möchte, dass Künstler auf Menschen treffen, auf Kinder, Jugendliche, Studenten und Einheimische“, sagt Festspielintendant Anders Beyer, der seit sechs Jahren das Festival führt. Dafür experimentiert er mit Formaten, die es anderswo so nicht gibt. „Wohnzimmer – Geheime Hauskonzerte“, etwa nannte er 2012 eine Reihe, in der Künstler ihre Häuser für Konzerte öffneten. Ticketkäufer erfuhren die Zeit, nicht aber die Adresse der Veranstaltung, die erst kurz vorher per SMS mitgeteilt wurde. Auch Norwegens berühmtester Pianist Leif Ove Andsnes, der in Bergen lebt, machte mit.

Andreas Scholl und Tamar Halperin bei den Internationalen Festspielen Bergen
Andreas Scholl und Tamar Halperin bei den Internationalen Festspielen Bergen

Im „Liederbuch der Erinnerungen“ 2015 wiederum kamen etwa 1.500 Menschen in Bergens Grieg­-Halle zusammen, die meisten von ihnen an Demenz erkrankt oder pflegebedürftig im Rollstuhl, um unter Anleitung professioneller Musiker zu singen. „Solche Konzerte sind für mich genauso wichtig wie die der Stars“, beteuert Beyer, räumt aber auch ein, dass „der politische Druck, alle Schichten der Bevölkerung zu erreichen“ in Norwegen groß sei. 2017 betrug sein Budget etwa 7,6 Millionen Euro, die Hälfte davon berappte der Staat und die Region, der Rest wurde aus dem Sponsoring und dem Ticketverkauf erwirtschaftet. Dennoch fühlt er sich frei. „Wir müssen uns weder gegenüber der Stadt legitimieren noch auf Traditionen Rücksicht nehmen. Wir dürfen innovativ agieren. In Oslo wäre das ganz anders, da müsste man diplomatisch vorgehen“, freut sich der Däne, der „wie viele hier“ aus einer Fischerfamilie stammt.

„Kunst mit Debatten verknüpfen“

Ein Mann, der alle Seiten des Lebens und des Kulturbetriebs kennt. Als Teenie jazzte er in Combos. Dann studierte er Philosophie und Musik, wurde Journalist, Autor und Herausgeber, und schrieb über nordische Musik. In den Neunzigerjahren war er im Balkan künstlerisch aktiv, dann am Ground Zero in New York. In Kopenhagen managte er die Athelas Sinfonietta, ein Spezialensemble für Neue Musik, und entwickelte an der Oper ein Festival. So empfahl er sich für Bergen. „Festivities – Foundations – Friction“ hat Beyer die Schwerpunkte des Festivals etikettiert: Entertainment, klassisches Erbe und Experiment. Ein Programm also für Jung und Alt, für die ganze Familie, und das in einem Land, in dem das Königs­ haus die Musik liebt und Musikerziehung ernst genommen wird. Beyer will „Kunst mit Debatten verknüpfen“, Debatten über „unser Leben in dieser komplizierten Gesellschaft, Debatten über unseren Glauben, unsere Zweifel“. Man müsse traditionelle Konzertformate überdenken, meint Beyer.

Bergen Philharmonic Orchestra
Bergen Philharmonic Orchestra

Tatsächlich ging es etwas anders zu beim letztjährigen Auftritt des Geigers Charlie Siem in der Grieg­-Halle. 1978 fertiggestellt, wirkt sie trotz ihrer markanten Erscheinung architektonisch etwas passé, besonders in ihrem Inneren. Auf der Bühne unter einer Decke mit bullaugenartigen Lichtauslassungen in knalligem Rot saß Siem nun auf einem Hocker und sollte vor jedem Musikstück dem Moderator ein kleines Interview geben, das für die 1.500 Menschen im Publikum auf zwei Monitore projiziert wurde. Für den mediengewandten Siem, der einst als Model gearbeitet hatte, kein Problem. Für seinen nervösen Begleiter, den Pianisten Itamar Golan, allerdings schon. Die Fragen schienen ihm irgendwie lästig. Er wollte, wie wohl jeder andere Musiker auch, sich einfach nur auf das Konzert konzentrieren. „Das Format ist neu, das müssen wir noch optimieren“, räumt auch der rührige Beyer ein – im Hinterkopf wohl den Vertrag, den er 2017 mit einem französischen Digital­-Kanal abgeschlossen hat. „Die haben 62 Millionen Zuschauer, davon müssten wir doch zehn Millionen für das interessieren können, was das Bergen Festival tut“, sagte er damals.

Wo die Natur wie eine Religion verehrt wird

Das einstige Haus des Geigers Ole Bull ist heute Konzertort
Das einstige Haus des Geigers Ole Bull ist heute Konzertort

Jedes Jahr wird für die Festspiele in Bergen ein Composer in Residence gekürt. 2018 war das Sofia Gubaidulina, 2019 wird es Unsuk Chin sein. Beide mussten bzw. müssen sich allerdings die Ehre mit zwei anderen Komponisten teilen, die hier permanent „in Residence“ sind: Edvard Grieg, der nicht aus Bergen stammte, aber die letzten beiden Lebensjahrzehnte hier verbrachte. Und Ole Bull, ein gefeierter Violinvirtuose, der sich vor über hundert Jahren die Insel Lysøn kaufte und auf ihr ein historistisches Holzchalet mit Zwiebelturm und Holzornamenten baute. Ein bisschen Alhambra- Charme strahlt dieses Märchenschlösschen aus, ein Museum des bürgerlichen Virtuosenkults, in dem es oft romantische Geigenmusik zu hören gibt. Zur Villa von Edvard und Nina Grieg geht es nicht übers Wasser, sondern mit dem Bus nach Troldhaugen, auf den „Trollhügel“, eine halbe Stunde von Bergen entfernt. Und dann nochmal 400 Meter zu Fuß durch den Wald. Kein Problem in Norwegen, wo man ohnehin stets mit Rucksack und Outdoor-Kleidung unterwegs ist und die Natur wie eine Religion verehrt.

In den Felsen unter Griegs Wohnsitz hat man einen Kammermusiksaal geschlagen. Durch das große Fenster, das die Hinterwand der Bühne ausmacht, kann man direkt auf Griegs Komponistenhütte und den Fjord blicken, und zu der Musik die Blicke über die Vögel und Boote auf dem glitzernden Wasser im Sonnenlicht gleiten lassen. Einfach unvergesslich! Auch wenn Grieg seine berühmte „Morgenstimmung“, den ersten Satz der ersten „Peer-Gynt-Suite“ von 1876, hier nicht komponierte – das Bild hatte er sicherlich im Kopf.

concerti-Tipp:

Internationale Festspiele Bergen
22.5.-5.6.2019
Mit: Hilary Hahn, Leif Ove Andsnes, Yo-Yo Ma, Michala Petri, Mahan Esfahani, Daniel Behle, Philharmonix, Grieg Trio, Bergen Philharmonic Orchestra

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