Alle guten Festivals sind kleine autonome Welten auf Zeit – mit ihrem eigenen Rhythmus, ihren Insider-Witzen und mit besonderen Programmen, wie man sie in der Saison an den Häusern oft vergeblich sucht. Die Musiker sitzen nach den Konzerten bis tief in die Nacht zusammen, und das Publikum, zu hohem Prozentsatz „Wiederholungstäter“, genießt die Atmosphäre aus musikalischer Höchstleistung und Lässigkeit.„Festivals konzentrieren sich auf die warmen Monate, im Winter herrscht ein bisschen Tabula rasa“, bedauert José Gallardo. Gemeinsam mit Star-Klarinettist Andreas Ottensamer arbeitet der argentinische Pianist seit 2013 daran, dies zu ändern. Mitten im Februar läuft ihr viertägiges Winterfestival in der weiß leuchtenden Schneekugelwelt des Schweizer Bürgenstock hoch über dem Vierwaldstättersee: „Es wirkt ganz weit weg von allem, aber das stimmt natürlich nicht.“
Eine bestens angebundene Idylle dank Schweizer Bahn
Es fällt zwar schwer, sich den Trubel der Außenwelt vorzustellen, wenn der Morgennebel den See verschwinden lässt, sich dicht um das frei auf der Anhöhe stehende Hotel Villa Honegg legt und nichts als Kuhglocken durch die Stille tönen. Tatsächlich aber ist der Konzertort, der schöne historische Hotelkomplex mit der berühmten Kapelle, in der sich Audrey Hepburn und Mel Ferrer 1954 in Anwesenheit von viel Film-Prominenz das Ja-Wort gaben, richtig gut angebunden – Schweizer Eisenbahnnetz sei Dank. „Vilde Frang musste letztes Jahr zwischendurch für ein Konzert nach Zürich und ist sozusagen gependelt“, erinnert sich José Gallardo. Die norwegische Geigerin gehört zur Liste hochkarätiger Künstler, die das junge Festival bereits auf den Bürgenstock gezogen hat. Die „Clarinotts“, bestehend aus Andreas Ottensamer, Bruder Daniel und Vater Ernst, waren ebenso mit von der Partie wie Oboist Albrecht Mayer, der Konzertmeister der Berliner Philharmoniker Daishin Kashimoto, die Cellisten Stephan Koncz und Nicolas Altstaedt, die Bratscher Nils Mönkemeyer und Antoine Tamestit oder Trompeterin Tine Thing Helseth.
„Zum Schifahren bleibt an den vier Tagen leider gar keine Muße, aber dazu, ein bisschen durch den Schnee zu wandern, kommen wir schon“, erzählt Gallardo. Und für die kurze Pause im Außenpool mit seinem spektakulärem Seeblick ist zum Glück auch meistens noch Zeit. Dass bei derartigen Festivals die Proben für alle Musiker enorm dicht getaktet sind, um in kürzester Zeit ein perfektes Programm auf die Bühne zu bringen, vergisst man als Zuhörer angesichts der entspannten Stimmung unter den Ausführenden glatt. „Ach nein, Urlaub ist etwas ganz anderes“, lacht Pianist Gallardo. „Aber wir genießen es, hier zu sein – diese Intimität von Hauskonzerten unter Freunden ist unvergleichlich!“ Er seufzt versonnen und erklärt: „Man bekommt ein wenig ein Gefühl dafür, wie es bei den Schumanns war, mit Johannes Brahms und ihrem ganzen Kreis. Damals wurde die Kammermusik überhaupt erst geboren. Sogar Brahms’ Requiem haben sie zuerst in diesem kleinen Rahmen aufgeführt, nicht mit riesigem Chor und Orchester in einem Konzertsaal.“
Ein Zusammentreffen von Russland und Amerika
Dieses Werk gibt es 2017 allerdings nicht zu hören auf dem Bürgenstock. Im Fokus der Saison stehen die vielfältigen musikalischen Einflüsse zwischen Russland und Amerika. Bei „East-West Side Story“ in der neutralen Schweiz trifft Schostakowitsch auf Bernstein, Jazz auf Antonín Dvořák, eine Matinee ist der Exilmusik gewidmet. Etwas aus der Reihe tanzt der letzte Abend, wenn Andreas Ottensamer und Albrecht Mayer die dritte CD der Bürgenstock Festival Edition vorstellen, die dem zu Unrecht häufig unterschätzten Komponisten Carl Stamitz zu seinem Recht verhelfen soll.
Die Festivaldaten im Überblick:
Zeitraum: 1.-2.11.2016 & 9.-12.2.2017
Mit: José Gallardo, Maximilian Hornung, Emmanuel Pahud, Stephan Koncz, Albrecht Mayer u. a.
Ort: Bürgenstock